Stürmer, Star – Rebell?: Der Mythos Otto Siffling

Rudolf Oswald

In der eindimensionalen, oftmals wenig fundierten Betrachtungsweise der Populärwissenschaft rangiert ein Fußballstar der 1930er Jahre, entsprechend der zugrunde liegenden apologetischen oder anklagenden Tendenz entweder als Gegner, als Opfer oder als Mitläufer des Nationalsozialismus. Derartige Wertungen werden dem Charakter des „Starkults“ im Fußball des Dritten Reiches jedoch nie vollkommen gerecht – vor allem deshalb nicht, da sie eine aktive Rolle der Spieler in Bezug zur NS-Herrschaft voraussetzen. In der Regel war das Gegenteil der Fall. Fußballkarrieren konnten 1933 fortgesetzt oder begonnen werden, ohne dass politische oder ideologische Konformität bewiesen werden musste. Meist reichte die Bereitschaft des Kickers aus, der Massenkultur Fußball auch unter veränderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sprich: unter den diktatorischen Bedingungen des Nationalsozialismus zur Verfügung zu stehen.
Entgegen landläufiger Meinung – und sieht man einmal vom obligatorischen „Hitler-Gruß“ vor Spielanpfiff ab – dominierte seit 1933 in der Präsentation des „Starkults“ keineswegs der politische Kontext. Die meisten schriftlichen und visuellen Dokumente, die zu den „Kanonen“ des gleichgeschalteten Fußballs überliefert sind, unterscheiden sich inhaltlich kaum von der Art und Weise, wie zu Weimarer Zeiten populäre Spieler Eingang in die Medien fanden. Der „Starkult“ des Dritten Reiches war überaus belastbar – und er war auch gegen Verhaltensweisen immun, die nur schwer mit der nationalsozialistischen Ideenwelt in Einklang zu bringen waren. Ein Beispiel hierfür liefert der wohl beste deutsche Stürmer der 1930er Jahre: Otto Siffling.

Vereinnahmungen

Vor seinem allzu frühen Tod im Oktober 1939 zählte Otto Siffling zu den erfolgreichsten Kickern Deutschlands. Für seinen Verein, den SV Waldhof Mannheim, erzielte er zwischen 1930 und 1939 ein Fünftel aller Tore. Im Rahmen seiner 31 Länderspieleinsätze (1934-1938) traf er durchschnittlich in jedem zweiten Spiel – eine Torquote, die nur sehr wenige Angreifer des Nationalteams bis dahin vorzuweisen hatten.1 Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte Siffling 1937: Vom Mai des Jahres datiert der legendäre 8:0-Triumph der deutschen Auswahl („Breslau-Elf“) über Dänemark, zu dem allein der Waldhöfer fünf Treffer beisteuerte.
Angesichts seiner Leistungen, hätte es schier an ein Wunder gegrenzt, wäre die zeitgenössische Presse – und damit auch der gleichgeschaltete Journalismus – nicht auf den Ausnahme-Könner aufmerksam geworden. Eine konsequente Vereinnahmung Sifflings setzte allerdings erst relativ spät ein. Der junge Stürmer aus dem Mannheimer Vorort hatte bereits an der Weltmeisterschaft 1934 in Italien teilgenommen, war dort in allen vier Spielen der deutschen Elf zum Einsatz gekommen und wurde alleine in den Jahren 1935 und 1936 17-mal für die Nationalmannschaft nominiert (bei 28 Begegnungen insgesamt), ohne dass sich dies medial in besonders auffallender Weise niedergeschlagen hätte. Offensichtlich reichten die in dieser Zeit für die DFB-Auswahl erbrachten Leistungen nicht aus, um einen reichsweiten Kultstatus zu begründen – und in der Tat: In den ersten drei Jahren seiner internationalen Karriere erzielte Siffling lediglich fünf seiner insgesamt 17 Treffer im schwarz-weißen Dress.2
Begründet wurde der nationale Ruhm des Waldhöfers durch zwei Länderspiele, die 1937 ausgetragen wurden. Im Mai des Jahres schlug die Nationalelf Dänemark mit 8:0, wobei Otto Siffling fünf Tore beisteuerte. Im darauffolgenden Oktober schließlich schoss er bei einem Aufeinandertreffen mit Norwegen alle drei Siegtreffer für Deutschland.3 Spätestens nach diesen beiden Einsätzen war Siffling in puncto Popularität mit den Großen den deutschen Fußballs gleichgezogen: mit den beiden Schalker Stars Fritz Szepan und Ernst Kuzzora, mit dem Mittelfeldregisseur der Frankfurter Eintracht, Rudi Gramlich, oder mit dem Regensburger Torwart-Ass Hans Jakob. Schlagartig begann sich nun die überregionale Sportpresse für den Stürmer aus dem Südwesten zu interessieren.4 Am 18. Mai 1937, nur zwei Tage nach seinen fünf Treffern in Breslau, zierte Siffling die Titelseite des Reichssportblattes – eines Hochglanz-Magazines, das seit 1934 auf Initiative des sogenannten „Reichssportführers“ von Tschammer und Osten herausgegeben wurde.5 Nur einen Tag später, am 19. Mai, zogen zwei führende Fachzeitschriften, Der Kicker sowie der Fußball, nach und präsentierten Siffling ebenfalls auf Seite eins.6 Auch in anderen Sportblättern wurde das „Fußballgenie“ aus Mannheim gefeiert. Politische oder weltanschauliche Anspielung unterblieben dabei ausnahmslos.7
Nachdem der Fachjournalismus vorgelegt hatte, wurde auch die politische Presse des Dritten Reiches auf Otto Siffling aufmerksam. Eine Gelegenheit, das Sturmtalent für die nationalsozialistische Partei zu vereinnahmen, ergab sich nur wenige Monate nach dem Triumph von Breslau, als Siffling bei einem weiteren Heim-Länderspiel die deutsche Auswahl mit drei Treffern im Alleingang zum Sieg geschossen hatte. Dieses 3:0 gegen Norwegen (24. Oktober 1937 in Berlin) nahm beispielsweise der Völkische Beobachter zum Anlass, den Mannheimer zum „Helden“ auszurufen.8 Selbstredend wurde die Popularisierung Sifflings nach dessen frühen Tod fortgesetzt. So ist etwa in einer Sammlung berühmter Stürmer aus dem Jahr 1940, die den Titel „Feldherrn der Fußballschlachten“ trägt, auch ein Portrait des Waldhof-Spielers zu finden.9

Images

Aufgenommen in die Riege der Fußball-Idole seiner Zeit, hielt jedoch im Falle Sifflings eine Form des „Starkults“ Einzug in die Fachmagazine, der bestimmten Aspekten konservativer Tradition widersprach – einer Tradition, in der sich nicht zuletzt der Nationalsozialismus befand. Den Darstellungen Sifflings mangelte es nicht nur an politischen und ideologischen Kontexten – dies traf auf den weitaus größten Teil der Sportfotografie im Dritten Reich zu –, sondern sie konterkarierten auch gängige Vorstellungen „guten deutschen Benehmens“. Während abseits vom Spielfeld andere herausragende Kicker beim Wandern oder im Kreise ihrer Familie gezeigt wurden, gerieten von dem Waldhöfer Bilder in Umlauf, die noch aus der Rückschau anmuten, als wären sie aus der Zeit gefallen, als entstammten sie den 1950er Jahren.
Im Aussehen mehr den späteren „jungen Wilden“ Hollywoods ähnelnd, haftete dem erfolgreichsten Mannheimer Fußballer aller Zeiten stets etwas Lässiges an: beim Billardspiel oder über die Piazza einer italienischen Metropole schlendernd –10 die Darstellungen Sifflings waren nur sehr schwer mit vorherrschenden images des „Deutschen“, des „Deutschtums“ in Einklang zu bringen. Wenn etwa Fotos existieren, auf welchen Siffling bei der Lektüre von Kriminalromanen im Groschenheft-Format zu sehen ist, so muss dies auch vor dem Hintergrund bewertet werden, dass derartige Literatur spätestens seit Erlass des sogenannten „Schmutz- und Schundgesetzes“ von 1927 kulturpolitischerseits sehr verpönt war – und die Machtergreifung Hitlers 1933 markierte in dieser Hinsicht gewiss keine Zäsur.

Renitenzen

In manchen Fällen beließ es Otto Siffling nicht bei der „Pose des Rebellischen“. Bei einigen Gelegenheiten überschritt er die Grenze hin zu renitenten Verhaltensweisen und zeigte offen seine Gesinnung. Der Waldhöfer wählte dann meist ein Mittel, das ebenfalls besser in die Zeit des Jugendprotestes späterer Jahrzehnte passte: Er machte sich über bestimmte Aspekte des nationalsozialistischen Weltbildes lustig, gab sie der Lächerlichkeit preis.
In seiner 1999 erschienenen Biographie über Otto Siffling beispielsweise erzählt Karl-Heinz Schwarz-Pich folgende Begebenheit: „Als Mannschaftskameraden vor einem Länderspiel in München mit einem besonders zackig ausgeführten ‘Deutschen Gruß’ die Empfangshalle des Hotel[s] ‘Deutscher Kaiser’ betraten, soll ihnen Otto Siffling, für jedermann vernehmbar, zugerufen haben: ‘Männer, reißt die Lamp’ net runner.“11 Zwar findet sich in dem Werk keine Belegstelle, wodurch sich der Ausruf Sifflings verifizieren ließe, dennoch kann mit Hilfe weiterer schriftlicher Quellen die Glaubwürdigkeit solcher und ähnlich gelagerter Anekdoten gestützt werden. So ist etwa in einer Ausgabe der Waldhof-Mitteilungen aus dem Jahre 1937 ein Bericht Sifflings über die Skandinavien-Reise der deutschen Nationalmannschaft vom Juni des gleichen Jahres überliefert. Darin gebraucht er zwar einen ideologisch besetzten Begriff, den der „wahren Kameradschaft“, zunächst aber versteht er darunter „Skatspielen“.12 Der Terminus der „Kameradschaft“ war seit den frühen 1920er Jahren extrem weltanschaulich aufgeladen. Er war fester Bestandteil der Ideologie in den bürgerlichen Sportverbänden Weimars und er bildete mit Blick auf die Verherrlichung des Soldatentums im Dritten Reich ein wichtiges Versatzstück nationalsozialistischen Gedankengutes.13 Wenn also Otto Siffling ausgerechnet diesen Begriff wählte, um eine Männerrunde beim Kartenspiel zu beschreiben, so kam dies vor dem Hintergrund zeitgenössischer Semantik schlichtweg einem offenen Affront gleich.
Ebenso kommt die Haltung, die Siffling gegenüber dem NS-Regime einnahm, in einem schriftlichen Zeugnis zum Ausdruck, das sich in der Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum des SV Waldhof findet. Karl Geppert, in den 1920ern Funktionär des Süddeutschen Fußballverbandes, erinnert sich darin an eine Episode aus dem Jahr der nationalsozialistischen Machtübernahme: „Man schrieb das Jahr 1933: ein wichtig tuender ‘Reichssportführer’ hatte die Sportgemeinde Mannheims in die Festhalle zusammengetrommelt. (…) von der erwarteten ‘Disziplin’, die doch auf dem Spielfeld gepflegt wurde, war hier (aber) wenig zu sehen. Otto Siffling erklärte z.B., er habe Durst und verschwand.“14
In der Zusammenschau ergibt sich somit ein Bild Otto Sifflings, das geprägt scheint von einer Distanz gegenüber Autoritäten, im konkreten Fall gegenüber dem Nationalsozialismus – eine Distanz, die der Mannheimer Internationale mitunter auch in einer provozierenden Art und Weise zur Schau stellte. Zwar mag der Begriff des „Rebellen“ für einen derartigen Habitus unangebracht sein, dass sich die Figur Siffling aber als Projektionsfläche für aufsässiges Verhalten eignete – somit jugendkulturelle Ausdrucksformen der 1950er vorwegnehmend –, dies dürfte sich nur schwerlich bestreiten lassen.

Die Rolle des Starkults in der NS-Volksgemeinschaft

Weder Posen, die dem Mainstream der Zeit widersprachen, noch die Verächtlichmachung ideologischer Aspekte dürfen mit Widerstand verwechselt werden. Soweit ging auch ein Otto Siffling nicht. Hätte er sich beispielsweise dem Ausbringen des „Deutschen Grußes“ vor Spielbeginn widersetzt, so wäre seine internationale Karriere sehr schnell beendet gewesen. Und dadurch erfüllte schließlich auch der Waldhöfer die Funktion, die dem „Starkult“ seit 1933 zugewiesen war.
Die wichtigste Aufgabe des Fußballstars im Dritten Reich bestand in der Ablenkung und Festigung der Volksgemeinschaft. Ähnlich den Leinwandhelden, konnte die mediale Präsenz der „Kanone“ dem Fan ein Gefühl der Teilhabe an der nationalsozialistischen Gesellschaftsutopie vermitteln. In diesem Sinne war der „unpolitische“ Starkult im Dritten Reich in höchstem Maße politisch. Die Fans wurden in den NS-Staat eingebunden, indem sie keiner aufdringlichen Propaganda ausgesetzt waren. Im Falle Sifflings erwies sich die nationalsozialistische Volksgemeinschaft sogar als noch dehnbarer. Abbildungen des Stürmers, die auf eine nonkonforme Einstellung schließen ließen, wurden nicht nur toleriert, sondern ignoriert. Ob sich in dessen Posen, ob sich in dessen spärlichen Äußerungen Aufsässigkeit ausdrückte, war für die Volksgemeinschaft des Dritten Reiches völlig unerheblich, solange er diesem Kollektiv mit Hilfe der Popularkultur, die sich seit den 1920ern ausgebildet hatte, zur Verfügung stand.
Man könnte sogar noch weiter gehen und behaupten, dass Otto Siffling die Forderung des NS-Sports nach Präsenz der Stars gerade dadurch erfüllte, dass er sich als „Rebell“ in Szene setzte. Auch auf diese Weise war es potentiell möglich, jugendliche Fans in das nationalsozialistische System einzubinden. Wie dem auch sei, die Propaganda jedenfalls wusste, was sie dem Stürmer schuldig war: Als Otto Siffling im Oktober 1939 im Alter von nur 27 Jahren an den Folgen einer verschleppten Lungenerkrankung starb, „blies“ an seinem Grab, „eine einsame Trompete (...) das Lied vom ‘Guten Kameraden’“.15

  • 1. Vgl. Zeilinger, Gerhard: Die Fußball-Hochburg Mannheim 1920-1945, Buchen-Walldürn 1994, S. 161f.; Kicker-Almanach 1959, München o.J., S. 19-24.
  • 2. Vgl. Kicker-Almanach, wie Anm. 1., S. 20-22.
  • 3. Vgl. Zeilinger, wie Anm. 1, S. 163.
  • 4. Die Fußball-Woche hatte Otto Siffling bereits im März 1937, im Vorfeld des Länderspieles gegen Frankreich in Stuttgart auf der Titelseite platziert; vgl.Schwarz-Pich, Karl-Heinz: Otto Siffling, der SV Waldhof und die deutsche Fußball-Nationalmannschaft im Dritten Reich, Kassel 1999, S. 108.
  • 5. Vgl. Reichssportblatt (Titelseite), 4 (1937), 18.5.
  • 6. Vgl. Der Kicker (Titelseite), 18 (1937), 19.5., Fußball (Titelseite), 27 (1937), 19.5.
  • 7. Vgl. etwa Schwarz-Pich, wie Anm. 4, S. 115; Grüne, Hardy: Fußballweltmeisterschaft 1934, Kassel 2002, S. 118
  • 8. Vgl. Zeilinger, wie Anm. 1, S. 163.
  • 9. Vgl. Müllenbach, Hanns J./Becker, Friedebert: Feldherrn der Fußballschlachten. Die packende Lebensgeschichte berühmter deutscher Mittelstürmer, Nürnberg [1940].
  • 10. Vgl. Schwarz-Pich, wie Anm. 4, S. 19, 27 und 87.
  • 11. Vgl. ebd., S. 14.
  • 12. „Nordlandfahrt mit der Nationalmannschaft“, in: Der Waldhof. Mitteilungsblätter des Sportvereins Mannheim-Waldhof E.V. von 1907, 10 (1937), Nr. 6.
  • 13. Oswald, Rudolf: „Fußball-Volksgemeinschaft“. Ideologie, Politik und Fanatismus im deutschen Fußball 1919-1964, Frankfurt a.M., New York 2008, S. 65-78 und 132-135.
  • 14. 50 Jahre SV Waldhof Mannheim, Heidelberg [1957], S. 16.
  • 15. Zit. nach: Zeilinger, wie Anm. 1, S. 165.