Von O. Siffling
Große Freude erfüllte mich, als ich vom Reichsbund für Leibesübungen die Mitteilung zur Teilnahme an der Nordlandreise der Nationalmannschaft erhielt. Im Hotel „Russischer Hof“ in Berlin trafen sich am 22. Juni die Kameraden der Nationalmannschaft zur Abfahrt nach Riga. Nahezu vierundzwanzig Stunden dauerte die Bahnfahrt nach dort. Die ersten Stunden waren damit ausgefüllt, Erinnerungen auszutauschen, die am nächsten Morgen, nach gut durchschlafener Nacht im Mitropa-Schlafwagen, fortgesetzt wurden. Diese Tagesfahrt führt uns durch weites, ebenes Land, mit sehr viel Baumbestand. Auffallend war der Baustil der Häuser bei dieser Fahrt durch Litauen, Lettland und Finnland. Nur wenige Steinbauten konnten wir beobachten, meistens bestanden die Dörfer und Ansiedlungen aus Holzhäusern, die mehr der Art von Blockhäusern ähneln. Mit besonderem Stolz bestaunten wir – und hier gerade ich – die großartige Fabrikanlage der Zellstoff A.G. Waldhof, Niederlassung Kexholm, die wohl das Modernste im Fabrikbau darstellen dürfte. Gegen Mitternacht am 23. Juni langten wir in Riga an. Nach dem Abendessen sofort Schlafengehen. Im Hotel „De Rome“ waren wir sehr gut aufgehoben. Zum Mittagstisch waren wir ins Offizierskasino in Riga eingeladen. Die meisten meiner Kameraden und auch ich aßen hier zum erstenmal Krebse, welche uns ganz famos mundeten. Am Nachmittag wurde eine Rundfahrt durchgeführt, bei der uns die schönsten Plätze Rigas gezeigt wurden. Mitten in der Stadt steht hochaufragend das Nationaldenkmal, zu vergleichen mit der Siegessäule in Berlin. Weiter wurde der Soldatenfriedhof mit seinen wunderbar angelegten gärtnerischen Schönheiten besucht. Dann ging es hinaus zum Meeresstrand zum erfrischenden Bad.
Am 25. Juni Spiel gegen die lettische Nationalmannschaft. Vor dem Spiel war für die aufgestellten Spieler Bettruhe verordnet, während die „Ersatzleute“ wie Jakob, Janes usw. sich unter nicht zu verkennenden Anzeichen von Schadenfreude ans Meer begeben durften. Die lettische Mannschaft enttäuschte nach der angenehmen Seite. Ganz groß spielte die Hintermannschaft, die uns das Toreschießen recht sauer machte. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch das knappe Resultat von 3:1 zu verstehen.
Abends fand im Offizierskasino ein kleines Bankett statt, das einen sehr kameradschaftlichen Verlauf nahm und bei dem in gegenseitigen Ansprachen die Verbundenheit der beiden Nationen Lettland und Deutschland hervorgehoben wurde. Es war schon etwas spät, als wir uns ins Hotel begaben.
Der folgende Tag stand im Zeichen der Ruhe und Erholung, die die meisten am Strand zubrachten. Es ist etwas Herrliches, so ein Bad in der See! Gegen Abend ging’s dann wieder ins Hotel zum Kofferpacken, denn die Weiterreise mußte gegen 23 Uhr angetreten werden. Wieder Schlafwagenfahrt bis Reval, Ankunft dortselbst vormittags 8.30 Uhr. Reval, direkt am Meer gelegen, größter Kriegshafen der ganzen Ostseeküste. Da bereits am selben Nachmittag die Weiterreise mit Flugzeugen erfolgen sollte, blieb uns nur wenig Zeit, die Sehenswürdigkeiten zu betrachten. Die meisten verlangte es nach einem kühlen Bade, was dann auch mit einer Fahrt nach dort zur Tatsache wurde. Nach der Einnahme des Mittagessens, was in den nordischen Ländern erst gegen 3 bis 4 Uhr nach mittags geschieht, starteten wir dann mit einer Ju 52 und zwei weiteren kleinen Flugzeugen zu der 35 Minuten andauernden Fahrt über die See nach Helsingfors.
Der 28. Juni brachte uns am Vormittag zu einem kurzen Training nach dem Platze, der sich uns aber in einer nicht sehr guten Verfassung bot. Anschließend war Besichtigung des neuen Stadions in Helsingfors, welches in seiner Form sehr dem Olympischen Stadion in Berlin gleicht. Das Fassungsvermögen wurde uns mit ca. 40 000 Zuschauern angegeben. Finnland hofft, durch den Bau dieses Stadions die Durchführung der Olympischen Spiele 1944 zu erhalten. Endgültige Fertigstellung des Stadions wird im Frühjahr 1938 sein. Nach dem Mittagessen im Hotel „Helsinki“, das uns in den zwei Tagen unseres Aufenthaltes in Helsingfors bestens beherbergte, ging es zu Finnlands und wohl auch der Welt berühmtestem Sportsmann, Paavo Nurmi, der in nächster Nähe des Hotels ein Herrenartikelgeschäft betreibt. Wir haben Nurmi als echten Sportsmann und guten Kameraden kennengelernt, so, wie ich ihn mir immer vorgestellt habe. Mit herzlichen Worten schieden wir, nicht ohne zuvor bei Nurmi Großeinkauf von weißen Sonnenmützen mit farbigen Schilden zu tätigen.
Am 29. Juni Spiel gegen Finnland, das als Vorrundenspiel zur Teilnahme an den Weltmeisterschaftsspielen in Paris gewertet wird. Das Spiel wurde in den deutschen Zeitungen ausführlich beschrieben, sodaß ich mir einen solchen Bericht ersparen kann. Das Bestreben der Finnen war, nur möglichst wenige Tore zu erhalten, und diese Taktik wurde während der ganzen Spielzeit streng eingehalten. So ist es auch zu verstehen, daß ein höherer Sieg unserer Mannschaft nicht erzielt werden konnte, der mit etwas Glück auf unserer Seite und einem besseren Spielgelände wohl möglich gewesen wäre.
Draußen vor Helsingfors, auf einer Insel, liegt eine Befestigungsanlage, die in früherer Zeit als Gefängnis diente. Anscheinend um uns etwas Besonderes zu bieten, hatte sich der finnische Sportverband entschlossen, uns nach dorthin zum Zusammensein einzuladen. Ich muß sagen, es war doch ein wenig komisch anzusehen, wie da in einem langen Korridor die Tische zur Einnahme des Abendessens aufgestellt waren. Uns war zumute, als ob wir uns in der Zeit der Rittergeschichte befinden würden. Da um diese Zeit in den nordischen Ländern Tag und Nacht so gut wie eins sind, wäre eine Beleuchtung dieses Raumes kaum nötig gewesen. In Ermangelung einer elektrischen Lichtanlage griff man zur Petroleumbeleuchtung, deren schwacher Schein uns diese alten Mauern noch „romantischer“ erscheinen ließ. – Bevor ich meinen Bericht über Helsingfors schließe, möchte ich versuchen, etwas über das Leben und Treiben in dieser schönen Stadt wie auch in Finnland selbst zu berichten.
Der finnische Arbeiter, in seiner Arbeitsfreude sehr uns Deutschen ähnlich, liebt es, am Abend, d. h. man muß schon sagen in der Nacht (die ja keine ist) auszugehen. Er kommt von seiner Arbeit nach Hause, nimmt ein kurzes Frühstück zu sich, um sich dann zum Schlaf niederzulegen. Gegen 11 Uhr abends geht er dann aus. Es braucht ihm nicht bange zu sein, daß er in den Lokalen nichts bekommen wird, denn diese haben sich auf diese Eigenart, bedingt durch die klimatischen Verhältnisse des Landes, eingestellt. Lokale, Geschäfte etc. sind die ganze Nacht hindurch geöffnet. Man kann daher ruhig von einem Nachtleben, allerdings in einem besseren Sinn als in anderen Ländern, sprechen. – Es wäre noch zu sagen, wenn man dies nicht sogar als Hauptsache nehmen muß, daß die Aufnahme in Helsingfors überaus herzlich war und unsere Gastgeber es an nichts fehlen ließen. Zweimal Frühstück, um 10 und 12 Uhr, zwischen 3 und 4 Uhr nachmittags Mittagstisch, 5 Uhr Kaffee, um 8–½9 Uhr Abendessen und dann später Nachtessen. Es muß schon ein sehr starker Esser sein, der dies auf die Dauer aushalten kann. In echter Sportkameradschaft schieden wir von unseren finnischen Kameraden.
Von Helsingfors’ Naturhafen aus erfolgte am nächsten Morgen mit dem Dampfer „Rügen“ die Ausfahrt nach Deutschland. Die „Rügen“ präsentierte sich uns als ganz nettes Schiff. Einige von uns betrachteten sie wohl aber auch mit etwas Mißbehagen, daran denkend, daß dieses schmucke Schifflein auch die Seekrankheit bringen wird. Es war eine voreilige Angst; keiner der Teilnehmer wurde seekrank, was wohl auf die Einnahme einiger Gegengifte zurückzuführen war.
Wahre Kameradschaft verband uns während dieser zweitägigen Fahrt. Diese Gebundenheit führte dann auch zu allerlei Zeitvertreib, wie Skatspielen, was mehr den längs des Rheins wohnenden Teilnehmern liegt, oder Schafskopfspielen, das von den Bayern Jakob, Lehner, „Lutte“ Goldbrunner und „Schimmi“ in ausgiebigem Maße betrieben wurde. (Die Leut’ ham Nerven!) Unser Schlaf auf diesem schwimmenden Haus war nicht gerade gut, denn das ständige Schlingern des Schiffes war für uns ungewohnte Seefahrer immerhin etwas Beunruhigendes. Aber auch diese Nacht ging herum. Der zweite Tag brachte uns dann das Abschiedsfest, das wir zu einem Bordfest aufgezogen hatten. Mit allerlei möglichen und unmöglichen Kostümen angetan, war von vornherein schon die Gewähr eines zünftigen Maskenballes gegeben, was sich auch bestätigte. Bis tief in die Nacht hinein wurde allerlei Allotria getrieben! Dann ging’s in die „Schaukel“, wie einer im Scherz unsere Kojen nannte.
Am 2. Juli landeten wir vormittags gegen 9 Uhr im herrlichen Hafen Stettin, von Herrn Bundesführer Linnemann empfangen, der uns in herzlichen Worten zu unseren Erfolgen beglückwünschte. Nach einer Fahrt von zwei Stunden waren die Teilnehmer wieder am Ausgangspunkt der Expedition, Berlin „Russischer Hof“, gelandet. Beim gemeinsamen Mittagessen aller Teilnehmer hielt Dr. Nerz noch eine Ansprache, wies auf das bisher Geleistete hin und gab der Hoffnung Ausdruck, daß diese gemeinsam erlebte Fahrt weiterer Auftrieb zu größeren Taten im kommenden Jahre sein möge. Erfreulich auch, daß keiner der Spieler irgendeine ernstliche Verletzung erlitten hat und alle mit einer Fülle herrlicher Eindrücke und Erlebnisse von dieser wunderbaren Fahrt nach dem Norden nach Hause zurückkehren konnten. Das Geschenk in Form dieser Reise, das der RfL uns Nationalspielern gegeben hat, wird in allen Kameraden weiterleben und neue Kraft zu neuem Wollen geben.
aus: Der Waldhof. Mitteilungsblätter des Sportvereins Waldhof Mannheim, Mannheim, 10 (1937), Nr. 6, Juni 1937, S. 7-9