Otto Siffling

Bei den Gruppenspielen der Gaumeister im Frühjahr 1934 erregte ein Spieler der badischen Meistermannschaft des Sport-Vereins Waldhof durch sein außerordentliches Spieltalent und durch die Härte seiner Schüsse besonderes Aufsehen. Es war ein hagerer Mann, groß und sehnig, und wenn er mit seinem ungeheuren Start und seinem weitausgreifenden Schritt in freie Stellung lief und auf den Ball spurtete, da wurden die Zuschauermassen in den süd- und westdeutschen Städten unruhig, denn man fühlte, daß hier ein großer Spieler am Werke ist.

Die Waldhof-Schule.

Dieser Spieler war Otto Siffling, um jene Zeit ein 22jähriger und einer von vielen, die „auf dem Waldhof“ groß geworden sind und durch eine der besten Fußballschulen Süddeutschlands hindurchgegangen sind. Die Einwohner der Mannheimer Vorstadt sind ein Volk für sich, es hat seinen eigenen Stolz, es hält zusammen wie Pech und Schwefel, jeder kennt jeden. Diese Waldhöfer bilden eine einzige Familie. Klar und selbstverständlich, daß sich dieser Lokalkolorit auf den Fußball-Verein Waldhof übertragen hat, daß die Sportler aus der Vorstadt Waldhof sich hier zusammenfinden, daß sie in keinem anderen Mannheimer Verein sein wollen und sein können. Und seit dem Gründungsjahr 1907 bildete sich neben den anderen Waldhöfer Vereinen auch der Sport-Verein Waldhof 07, zog die sportbegeisterte Waldhöfer Jugend wie ein großer Magnet an sich, und nun kam noch hinzu, daß diese Waldhöfer ein besonderes Talent für das Fußballspiel haben. So haben sie nicht nur ihren eigenen Verein, sondern auch ihre eigene, eben die Waldhof-Schule zurechtgemacht, und die Tradition der Waldhof-Schule ist geblieben bis auf den heutigen Tag. Aus ihr sind viele Nationalspieler schon hervorgegangen – denken wir nur an Hutter, an das Paar Höger-Herberger – und manch badischer Spitzenspieler, wie der unvergeßliche Brückel, wie Schwärzel oder Skutlarek, hatte seine Wiege im Waldhof.

Erste Triumphe bei Uebungsspielen

Zu jener Zeit, als Sifflings Stern aufging, 1934, galt es für den deutschen Fußball-Sport, eine schlagkräftige, neue, junge Mannschaft zum großen Turnier um die II. Weltmeisterschaft nach Italien zu entsenden. Mit allen Vollmachten des Reichssportführers ausgestattet, ging Reichstrainer Otto Nerz an die Arbeit, suchte sich die jungen Talente aus den Vereinen, beobachtete seine vorerst nur ihm bekannten und von ihm sorgfältig gehüteten Kandidaten in den Vereinsspielen und rief sie dann erstmals Ende April zu einem Lehrgang zusammen. Einen Mittelstürmer hatte der Reichstrainer schon gefunden und in Aussicht: den schußgewaltigen, bärenstarken, kräftigen Saarbrückener Brecher Edmund Conen, einen Spieler, der für die neue Spielweise der Nationalmannschaft alle Eigenschaften besaß. Nun galt es, für diesen Sturmführer und Vollstrecker zwei bewegliche Verbinder zu finden, die das notwendige Ballgefühl besitzen und genügend Spielverständnis haben, um dem Mittelstürmer die Bälle „zu bringen“. In diesem Lehrgang fiel der junge Waldhöfer Siffling, dieser geschmeidige und großartige Techniker, dem Reichstrainer besonders auf, und er stellte ihn in jene Mannschaft, die das erste Uebungsspiel gegen eine englische Berufsspielermannschaft in Frankfurt am Main zu bestreiten hatte. Jene Mannschaft sollte Aufschluß geben über das Können und die Einsatzfähigkeit der Jungen in großen Kämpfen. Mit 5:0 gewann die Mannschaft das Spiel, dem starken Gegner, der damals englischer Meister war, keine Siegeschance überlassend! Die ältesten Fußballanhänger waren begeistert über das Können unserer Mannschaft, über das feine, verständnisvolle Zusammenwirken, über die Schießkunst des Mittelstürmers, vor allem aber auch über das unendliche Arbeitspensum, das die Halbstürmer leisteten. Einer dieser Halbstürmer war Otto Siffling.

Die Feuertaufe in Italien

Ganz Mannheim war stolz, als Otto Siffling die Fahrkarte für Italien erhalten hatte. Niemand wunderte sich über die Wahl, denn Siffling hat sich in der Tat als einer der Besten herausgeschält. Nun galt es, auch in schweren Kämpfen in Italien zu bestehen. Vorerst immer nur als Halbrechter, obwohl der Waldhöfer lieber Mittelstürmer gespielt hätte. Aber Otto Nerz antwortete immer wieder: „Spieler mit der Technik Sifflings sind mir auf dem Halbstürmer-Posten wertvoller“, und so mußte Siffling denn die ersten 16 Spiele seiner internationalen Laufbahn als Halbrechter oder als Halblinker bestreiten. Siffling bestand die Feuertaufe in Italien. Dafür zeugt ja allein schon die Tatsache, daß der Waldhöfer als einer der wenigen in allen vier Kämpfen – gegen Belgien in Florenz, gegen Schweden in Mailand, gegen die Tschecho-Slowakei in Rom und gegen Oesterreich in Neapel – eingesetzt worden war. Schwer, sehr schwer ist der erste Kampf in Florenz gewesen, denn die Belgier hatten kurz vor der Pause eine 2:1-Führung errungen, und es sah gar nicht gut für unsere Mannschaft aus. Aber hier schon tat sich Siffling durch seine langen, wohlgezielten Vorlagen an die Flügelstürmer hervor, und im „Kicker“-Sonderbericht aus Florenz hieß es, daß „Sifflings Vorlagen über das ganze Feld dem deutschen Sturm immer wieder großartige Angriffsmöglichkeiten eröffneten und die belgische Verteidigung auseinandergezogen haben“.

Das Meisterspiel gegen die Tschecho-Slowakei

Siffling hatte es nicht leicht, sich durchzusetzen, denn einmal warteten mehrere Kandidaten darauf, ihm den Platz in der Nationalmannschaft streitig zu machen, und dem wortkargen Waldhöfer war es auch nicht gegeben, sich viele Freunde zu verschaffen. Dieser Siffling war stets und immer ein ruhiger, bescheidener Mensch, und nur wenn er am Ball war, dann sah man, was für ein Temperament in ihm lodert. Er half 1934 noch mit, den 5:2-Sieg in Warschau gegen Polen zu erringen, war beim 4:0 1935 in Stuttgart mit dabei, setzte sich beim 3:1 im schwersten, wohl aber auch besten Spiel einer deutschen Nationalmannschaft 1935 in Paris ein, half das 6:1 von Brüssel mitzuerkämpfen, und wir sahen ihn dann noch in Dortmund gegen die Iren im Dreß der Nationalelf. Dann kam Sifflings größtes Spiel: am 26. Mai 1935 in Dresden gegen die Tschecho-Slowakei. Es war ein heißer Maientag, und der Platz des Dresdner Sport-Clubs, das Ostragehege, über und über mit Fußballbegeisterten besetzt, erlebte wieder einmal einen ganz großen Fußballtag. „Die Revanche für Rom.“ Sie ist gelungen durch zwei Tore von August Lenz: 2:1. Aber der Held dieses Kampfes war Otto Siffling. Wir lesen im „Kicker”, über dieses Spiel Sifflings: „Es sei einmal ein Vergleich gestattet. Wir wollen den Reichstrainer als den GeneralfeldmarschaII für die deutschen Länderspieler bezeichnen. Dieser Feldmarschall braucht aber auch einen Hauptquartiermeister, wie die Stelle heißt. Diese Stelle nimmt Otto Siffling ein, der heute grandios gespielt und überragendes geleistet hat. Er ist der Führer der deutschen Mannschaft, er dirigiert das Spiel, hinten, vorne, in der Mitte. Man sieht ihn überall. Ueberall taucht er auf, wo es gerade nottut. Ueberall sieht man ihn im Kampfe mit den Gegnern. Hat Siffling im deutschen Strafraum ausgeholfen, dann entdeckt man ihn im nächsten Augenblick auch schon vorne, wenn Conen oder Fath den Ball spielen. Siffling steht dann aber auch immer so, daß jeder deutsche Stürmer stets in der Bedrängnis zu Siffling zurückgeben kann. Siffling erspäht freie Wege, sorgt für Flügelwechsel, ruft die Stürmer zurück, gibt in der Verteidigung die Stellung der Spieler an. Und sein Zuspiel wollen wir auch nicht vergessen: es ist von besonderer Klasse.”

Noch sechsmal als Halbstürmer

Das Jahr 1935 brachte die bislang meiste Zahl an durchgeführten Länderspielen: 17 Stück! Davon wurden 13 gewonnen, eines endete unentschieden und drei Niederlagen mußten in Kauf genommen werden. Im ersten verlorenen Kampf, demjenigen gegen die Spanier in Köln, war Siffling nicht aufgestellt. Aber er durfte die schöne Reise nach Skandinavien mitmachen, wo die deutsche Nationalmannschaft am 27. Juni in Oslo und am 3. Juli in Stockholm gastierte. In Norwegen spielte der Waldhöfer als Halblinker, in Schweden als Halbrechter. Große Leistungen wurden nicht vollbracht, denn es war jedesmal eine ziemlich müde Mannschaft, die da zu wirken hatte. Allein zu Beginn des neuen Spieljahres wurde Siffling wieder gerufen, diesmal nach München, wo die Finnen unsere Gäste waren. Neue Saison, frische Kräfte, eine Bomben-Mannschaft und ein klarer 6:0-Sieg, sechs Treffer, die zur Hälfte auf Edmund Conen, zur andern Hälfte auf Ernst Lehner fallen. Noch einmal, in Breslau gegen Polen vier Wochen später, standen Conen und Siffling nebeneinander, dann verabschiedete sich der Mittelstürmer aus Saarbrücken von seinen Kameraden, Conens Erkrankung machte sich mehr und mehr bemerkbar, und der Reichstrainer stand vor der Aufgabe, einen neuen Sturmführer zu suchen. Der Reihe nach wurden der Karlsruher Damminger (Estland), der Eimsbütteler Panse (Lettland),der Schalker Pörtgen (Bulgarien) erprobt und „für zu leicht“ befunden. Dann griff man im Londoner Spiele gegen England wieder auf Karlchen Hohmann zurück – Siffling machte die Reise, nach London als Ersatzmann mit. Für das Spiel gegen die Spanier in Barcelona wurde Lenz aufgestellt, und erst dann machte man den Versuch mit Siffling.

Erstmals als Mittelstürmer

Das Debüt des Waldhöfers auf diesem Posten war durchaus nicht glücklich. Zulange hatte er seinen Spezialauftrag in der Nationalmannschaft ausführen, eine Aufgabe lösen müssen, die grundverschieden war von derjenigen des Mittelstürmers. Und nun sollte doch sein Lieblingswunsch in Erfülung gehen, und Siffling freute sich auf diesen Tag und auf dieses Spiel. Aber die äußeren Umstände sprachen ein gewaltig Wort mit. Zwei Tage lang mußte die Mannschaft in Barcelona und Madrid umherbummeln, weil die schweren Regengüsse den Boden so aufgeweicht hatten, daß das Sonderflugzeug der Deutschen Lufthansa nicht nach Lissabon fliegen konnte und die Mannschaft im Zug reisen mußte, dabei die Dispostionen von Stunde zu Stunde erwartend. Das Spielfeld war alles andere als ideal: große Wasserpfützen, tief aufgeweichter Boden. Und dazu kam dann noch dieser temperamentvolle stürmische Gegner, der nicht niedergespielt, sondern niedergekämpft werden mußte. Nach diesem Kampf, in dem sich übrigens der Schweinfurter Außenläufer Kitzinger ganz besonders auszeichnete, sah man auch den Versuch mit Siffling als Nachfolger Conen für mißglückt an, und erst als Lenz und Hohmann wiederholt an der Reihe waren und aus dem Nachwuchs kein überragender Mann auftauchte (Nerz: „Mir ist nur mit überragenden Spielern gedient, eingespielter Durchschnitt, auf den ich mich verlassen kann, steht mir genug zur Verfügung, so daß ich keine Experimente riskieren brauche“), wurde Siffling im September 1936 wieder als Mittelstürmer berufen, diesmal nach Prag zum Spiel gegen die Tschecho-Slowakei.

Langsam wuchs Siffling in die neue Aufgabe hinein

Auch das Prager Spiel brachte, obwohl Siffling eine ausgezeichnete Partie lieferte und durch seinen ständigen Einsatz der Flügel und durch sein ständiges Pendelspiel auf die Flügel hinaus die gegnerische Verteidigung stark beschäftigte, nur eine Verbesserung seiner Leistung gegenüber Lissabon. Immerhin genügte sie den beiden für die Aufstellung der Mannschaft verantwortlichen Männern, um Siffling den Sturmführerposten für das Spiel in Glasgow gegen die Schotten zu übertragen. Wir müssen viele Seiten im Ruhmesbuch der deutschen Nationalmannschaft nachblättern, wenn wir eine Leistung suchen wollen, die bis dahin dem in Glasgow von unserer Nationalelf gezeigten Spiel gleichkäme. Unser heißer Wunsch, auf britischem Boden einmal mit einer Sonderleistung aufzuwarten, einmal zu unserer Normalform aufzulaufen, einmal mit unserem Können zu paradieren, ging in Erfüllung, wenngleich der Sieg, der verdiente Sieg ausgeblieben ist. Unsere Mannschaft lieferte eine große Partie, und lange, ehe die Schotten durch ihren Rechtsaußen nach einem Zusammenprall mit Jakob den ersten Treffer hatten erzielen können, hätte die deutsche Nationalmannschaft die Führung an sich reißen müssen. Soviele Chancen wurden herausgespielt, so groß war die Ueberlegenheit. Aber wir hatten an diesem Tage nicht das Glück, das eben auch dazu gehört. In unvergeßlicher Erinnerung und ein sprechendes Beispiel für diese Behauptung ist Sifflings Pfostenschuß, wobei der Ball sich lange tänzelnd auf der Linie bewegte und dann zum Hohn sich um den Pfosten ins Aus drehte. Dort in Glasgow ist dann aber der Grundstock für jene deutsche Nationalmannschaft gelegt worden, die nun von Sieg zu Sieg eilte.

2:2 gegen den Weltmeister

Sifflings zwei Tore bringen das Unentschieden gegen ltalien

Ein Feiertag des deutschen Fußballsports! Die Italiener, die Wellmeister von 1934, kamen nach Berlin zum fälligen Rückspiel. Wir schrieben den 15. November, und wohlvorbereitet, durch eine gute Schule gegangen, in schweren Kämpfen in Glasgow und Dublin erprobt und erhärtet, stellte sich die deutsche Nationalmannschaft dem Weltmeister im Olympiastadion. Und Otto Siflling führte den Sturm. Wir gingen mit großen Hoffnungen in dieses Spiel und wurden gleich zu Beginn jäh enttäuscht, denn ein Doppelfehler des Verteidigerpaares Münzenberg-Munkert brachte den Italienern gleich nach Beginn des Kampfes schon eine billige 1:0-Führung. Aber unsere Mannschaft ließ sich nicht beirren. Fritz Szepan und Rudi Gellesch spielten ruhig und sicher die Bälle, Siffling lenkte und leitete den Angriff, zog ständig die Gegner auf sich, verwirrte durch sein ständiges Pendeln die italienische Standard-Verteidigung, brachte Unruhe und Nervosität in die italienische Mannschaft. Und groß war der Jubel, als der Waldhöfer dann nach unerhörter Kombination auf engstem Raum mit Szepan und Gellesch zusammen durchbrechen und am entgegeneilenden italienischen Torhüter vorbei den Ausgleich erzwingen konnte. Auch den zweiten Treffer in diesem 2:2 ausgegangenen Kampfe konnte Siffling selbst erzielen.

Noch gab es Widerstände zu überwinden

Wir sagten vorhin schon, daß der schweigsame Waldhöfer sich nicht „beliebt“ zu machen verstand. Wahrscheinlich war es diese, ihm fehlende, Eigenschaft, daß Siffling immer noch nicht die Anerkennung gefunden, die er verdiente. Otto Nerz und der Reichstrainer Herberger hatten Mühe, an Siffling festzuhalten und den Waldhöfer wieder durchzubringen. Der „Holz“, wie bezeichnenderweise in Mannheim Sifflings Spitzname gewesen war, tat auch gar nichts, um sich „beliebt“ zu machen. lhm waren alle Nebenumstände egal, ihm war das Spiel die Hauptsache und nur das Spiel. Am Ball und im Kampfe um den Ball fühlte er sich wohl, da konnte er sein ganzes, in ihm loderndes Temperament zur Geltung bringen, sonst nirgends. Kaum, daß er jemand ausführlicher antwortete. Wen er nicht schätzte oder wen er nicht mag, dem gab er überhaupt keine Antwort. Nicht aus Größenwahn oder Startum, sondern weil es ihm nicht lag, irgend etwas aus falsch verstandener Höflichkeit heraus zu tun, was ihm „gegen den Strich“ ging. Nur wenige verstanden den Waldhöfer, und zu diesen wenigen gehörten Nerz und Herberger. Als es dann galt, am Pfingstfeiertag des Jahres1937 gegen die Dänen in Breslau anzutreten, da spielte sich, wie wir heute wissen, hinter den Kulissen ein harter Kampf um die Mannschaftsaufstellung ab, und Nerz setzte sich erst unter Aufbietung aller Mittel durch. Endlich sollte der deutsche Fußballsport einmal eine Standard-Mannschaft erhalten. Endlich sollten die elf Besten eine Mannschaft bilden und in dieser Zusammensetzung in den kommenden Kämpfen eingesetzt werden. Breslau, das Spiel gegen die Dänen, sollte den Auftakt bilden, aber auch den Auftakt für die Vorbereitungen zur Weltmeisterschaft 1938.

Die Volltreffer von Breslau

Mit 8:0 feierte der deutsche Fußballsport einen seiner schönsten Triumphe. Aber es ist wirklich nicht allein das Ergebnis, das die Herzen höher schlagen ließ. Nein, es war diese großartige Leistung, die da auf dem wundervollen Rasenteppich des Breslauer Stadions den staunenden und begeisterten Zuschauern vorgeführt wurde. Ein Spiel, wie wir es noch ganz selten nur gesehen hatten. Unsere Mannschaft spielte wie aus einem Guß. Der Ball lief, daß es eine wahre Freude gewesen war. Das Schweinfurter Läuferpaar beherrschte das Mittelfeld. Der fliegende „Kicker“-Reporter Dr. Friedebert Becker, der in drei Tagen die Schotten, die Norweger, die Engländer und die Tschechen in Länderspielen sah, rief aus: „Als Mannschafts-Einheit übertraf Deutschland sogar England.“ Bei der Pause steht das Ergebnis 4:0. Lehner eröffnete den Torreigen in der siebten Minute schon, und mit diesem Treffer als sicherem Rückhalt wurde auf dem Rasenteppich ein Spiel vorgezaubert, das die Dänen selbst oft staunend betrachteten. Das alte Nerzsche Rezept wurde beachtet: zuerst den Gegner ausspielen und dann darauf sehen, daß Tore fallen. Der Gegner kam dann auch nicht mehr mit, und zwischen der 33. und 44. Minute erhöhte Siffling mit Treffern, von denen einer schöner war als der andere, den Vorsprung von 1:0 auf 4:0.

Fünf von den acht Toren erzielte Siffling!

Setzen wir dem leider so schnell verstorbenen großer Spieler hier ein Denkmal, wenn wir uns seine Breslauer Treffer in die Erinnerung zurückrufen. Da lesen wir: „Kupfer leitete den Ball weiter an Siffling. Der Waldhöfer stoppt, dreht sich blitzschnell um die eigene Achse, der ihn deckende Gegner weiß nicht, was los ist, aber einen Bruchteil später sieht er es: vergebens streckt sich der dänische Torhüter nach dem Ball: 2:0 für Deutschland. Das dritte Tor ist in Spielführung und Abschluß einzigartig. Janes nimmt dem Linksaußen den Ball meisterhaft ab. Weiter Schlag zu Lehner. Der Augsburger geht ab mit der Post. Siffling folgt auf gleicher Höhe mit. Bis in den Strafraum. Da, eine exakte Flanke direkt auf Sifflings Kopf, eine Vierteldrehung, und der Ball fliegt in das Netz zum 3:0. Kupfer ist am Ball, Paß zu Gellesch, Steilvorlage in den freien Raum. Siffling ist rechtzeitig gestartet, der Torhüter eilt unserem Mittelstürmer entgegen. Siffling will den Gegner elegant überspielen, zögert aber vor dem sich ihm entgegenwerfenden Torhüter. Der vermag den Ball doch nicht richtig zufassen. Plötzlich sehen wir Siffling wieder am Ball, und da gab es kein Ueberlegen mehr: 4:0. Drei Minuten nach der Pause schon 5:0. Vorbildlich weiter Abschlag von Janes bringt Urban ins Spiel. Lauf und Flanke. Siffling lauert schon, hinter dem dänischen Mittelläufer stehend. Der kann den Ball nicht treffen, und schon hat der Waldhöfer das Leder und ein kerniger Schuß zieht an Jensen, dem dänischen Torhüter vorbei.“ In der 65. Minute bietet sich Fritz Szepan eine feine Chance. Der Schalker aber gibt den Ball uneigennützig dem besser stehenden Siffling, der den Ball direkt zum 6:0 einschiebt. Das war Breslau.

15:0 gegen die Skandinavier 1937

Breslau war nur der Auftakt. Ende Juni sehen wir die deutsche Elf auf der Reise nach Riga und Helsinki. Gegen Lettland spielt die durch Münzenberg und Siffling verstärkte „zweite Garnitur“ in Riga 3:1. Vier Tage später werden die Finnen 2:0 geschlagen, auf einem unmöglichen, holprigen Boden, auf dem das Gras mit der Lupe gesucht werden mußte. Nach der Sommerpause rüstete sich die Nationalmannschaft zur Revanche an den Norwegern, die uns bekanntlich aus dem olympischen Fußballturnier geworfen hatten. Dieses Spiel sollte der Höhepunkt des Fußballjahres sein, und es Iäßt sich denken, mit welchem Interesse die gesamte deutsche Fußballgemeinde diesem Ereignis entgegenfieberte. Schon Wochen vor dem Kampfe, der auf den 24. Oktober festgesetzt wurde, war das 100 000 Zuschauer fassende Olympia-Stadion vollkommen ausverkauft. Enorme Preise wurden unter der Hand für die Eintrittskarten geboten; allein keiner der glücklichen Kartenbesitzer gab seine Eintrittskarte ab. War doch die „Breslauer Mannschaft“ angekündigt worden, also jene Nationalelf, die als die deutsche Nationalmannschaft unvergeßlich ist. Die Hoffnungen wurden nicht betrogen. An diesem regnerischen Oktober-Sonntag war die deutsche Mannschaft so gut vorbereitet, daß sie von der ersten Minute an im Bilde war. Glaubten wir, daß Glasgow oder Breslau der Höhepunkt gewesen sei, so wurden wir schon in den ersten fünf Minuten eines Besseren belehrt!

„Siffling gefährlicher als Dunne“

„Prachtleistungen am laufenden Band!“ schreiben am Sonntag und Montag die Blätter. „Glanzleistungen von Siffling!” heißts in anderen Ueberschriften. Und jetzt lassen wir den norwegischen Mittelläufer Etiksen sprechen, der vom „Kicker“ gefragt wurde, ob er mit dem berühmten Iren Dune oder mit Siffling mehr Arbeit gehabt habe: „Gar keine Frage: Siffling!“ „Und warum?“ „Weil niemand sich bei den Norwegern mehr mit den Positionen des deutschen Sturmes auskannte und Siffling mit seinem beweglichen Hin- und Herspiel einfach nicht zu stellen war!” Als wir Siffling dieses Lob aus des Gegners Mund übermittelten, wehrt er bescheiden ab und meint: „Könnte ich so variabel spielen, wenn ich nicht gerade zwischen Szepan und Gellesch stände?“ Der glückliche Waldhöfer, der dreifache Torschütze dieses Tages, glaubt, daß es streckenweise – den Gegner berücksichtigt – noch bestechender gelaufen sei als in Breslau, und er meint weiter, daß es sich erneut gezeigt habe, daß man auch Tore erkombinieren kann. „Es muß nicht immer eine Bombe sein“, sagte Siffling nach dem Spiel. Tatsächlich, Sifflings Meistertreffer, einer schußtechnisch feiner als der andere, waren reife Endprodukte zwangsläufiger Gesamtkombination – und der deutsche Fußball hat damit bewiesen, daß auch in einem W-System ein Mittelstürmer stehen kann, der ohne Tankmethode ein vollwertiger, erstklassiger Kämpfer ist. Ehe Siffling seine drei Treffer unter Dach und Fach gebracht hatte, gab’s noch eine aufregende Minute, als sowohl Gellesch wie Urban hintereinander krachend an den Pfosten geschossen hatten! Siffling schießt in der 19., 29. und 67. Minute die drei Tore.

Die Rochade auf dem Fußballfelde

Den Abschluß der Siegeskette gegen die skandinavischen Staaten bildete das 5:0 gegen die Schweden am 21. November im Stadion zu Altona. Von den fünf Treffern erzielte Siffling an diesem Tage zwei. Wieder war der Waldhöfer der große Regisseur im Sturm, wenngleich an diesem Tage der Stern von Helmuth Schön aufging und faszinierend strahlte. Das deutsche Stürmerspiel war in diesem Kampfe ideal. Alle verstanden es meisterhaft, durch das andauernde In-Stellung-laufen, das „Rochieren“, die blitzschnellen Passes, ihre Absichten zu verschleiern. Auffälliger denn je war an diesem Tage Sifflings Beweglichkeit. Ständig wanderte der Waldhöfer, beunruhigte den Gegner, schlich in die Lücken, operierte artistisch in jeder Stellung mit dem Ball. 50 000 Norddeutsche jubeln dem Waldhöfer bei seinen eleganten Körpertäuschungen zu. Vom Anstoß weg wibbelte sich der deutsche Angriff durch die schwedischen Abwehrreihen, und Siffling ist es, der den Reigen der fünf Treffer eröffnet. In der 57. Minute dieses Kampfes holte sich der Waldhöfer einen weiteren Zähler, nachdem er so fein in Stellung gelaufen war, daß ihm Urban den Ball nur zuschieben musste. Das war ja immer eine der Stärken des Waldhöfer: sein Sinn, man möchte sagen, sein „Riecher“, für das richtige In-Stellung-laufen.

Seine drei letzten Länderspiele

sahen den Waldhöfer in Köln gegen die Schweiz, in Frankfurt gegen Portugal, in Nürnberg gegen Ungarn. Alle drei Spiele, im Frühjahr 1938, endeten 1:1. In Frankfurt und in Nürnberg erzielte Siffling jeweils das Tor, das die deutsche Nationalmannschaft vor der Niederlage rettete. Es war nicht mehr der Siffling der italienischen Weltmeisterschaft, es war nicht mehr der Siffling von Breslau und von Berlin, der in diesen Kämpfen mitwirkte. Seinen engsten Freunden war es ein Rätsel, daß dieser Spieler, der doch in der Vollkraft seiner Jahre hätte stehen müssen, seinen Körper nicht mehr zu Sonderleistungen hatte aufraffen können. Es ist aufgefallen, daß Siffling wiederholt im Spielfelde stehen blieb, die Hände in den Hüften, und den Kameraden zusah, wie diese sich abrackerten. Viele glaubten, daß der Waldhöfer ein „Star“ geworden sei, daß er keine Lust mehr habe, sich einzusetzen, daß er nicht mehr kämpfen wolle. Spät, viel zu spät erfuhren wir alle nun, daß Siffling nicht mehr konnte! Es paßte zu diesem wortkargen und brummigen Mann, daß er niemanden, nicht einmal seine Gönner und seine besten Freunde ins Vertrauen zog und ihnen sagte, wie sehr ihn die Schmerzen in der Gegend des Rippenfelles quälten. Siffling ertrug die Schmerzen, wie er in stoischem Gleichmut die Vorwürfe ertrug, bis die Krankheit dann eines Tages ausbrach und keine Heilung mehr erfolgen konnte.

Die Kunde vom Todes des jungen Mannes

Im Oktober 1939 weilte eine deutsche Nationalmannschaft in Zagreb und in Sofia. Sie zeigten dort, im Kriege, Leistungen, die an die schönen Länderspiele erinnerten, und die Kameradschaft innerhalb der Reisegesellschaft mahnte uns an so viele Fahrten, die wir mit sovielen jungen Spielern schon mitgemacht hatten. Wir, der Schreiber dieser Zeilen und der Reichstrainer, standen auf der Heimfahrt zwischen Sofia und Belgrad im Gang des Wagens, bestaunten die reißenden Gebirgswasser, die von den Höhen des Balkans und durch die felsigen Schluchten hindurchstürzten. Und wir sprachen . . . natürlich von der Nationalmannschaft, von ihrem Aufbau und von den Aussichten, von kommenden Kämpfen und von Kandidaten. Von zukünftigen Kandidaten und von Spielern, die immer noch eine Chance haben, wieder in die Nationalelf eingereiht zu werden. Und es kam die Rede auf Otto SiffIing. „Kurz vor der Abfahrt erfuhr ich aus Mannheim, daß Siffling mit einer schweren Rippenfellentzündung ins Mannheimer Krankenhaus eingeliefert wurde“, sagte der Reichstrainer. Hans Jakob vernahm die Kunde im Vorbeigehen und meinte in seinem schönsten Bayerisch: „Dös is a saudumme Gschicht. Mich hat’s vielleicht ghabt! Hoffentlich hält’s der „Holz“ aus!“
Am Abend kauften wir uns in Belgrad die ersten deutschen Zeitungen. Conen, Lehner, Szepan, alles Spieler, die so oft mit Siffling zusammen waren. Herberger las vor: „Der Nationalspieler Siffling gestorben.“ Einen Augenblick stockte der Atem. Wir konnten es kaum fassen. Eine Nachricht, die uns alle erschütterte. Und während die deutsche Nationalmannschaft aus fremdem Land nach Hause fuhr, trug man in Mannheim einen jungen Mann zu Grabe, der in vier Jahren 31mal das Trikot der Nationalmannschaft getragen und 17 Treffer zur Torbilanz der deutschen Länderspiele beigetragen hat.

In den Annalen der deutschen Fußballgeschichte hat Otto Siffling sein Denkmal. Wir alle, die wir ihn gekannt und gesehen haben, werden ihm ein ehrendes Gedenken bewahren.

aus: Müllenbach, Hans Joachim/Becker, Friedebert: Feldherrn der Fußballschlachten. Die packende Lebensgeschichte berühmter deutscher Mittelstürmer (hrsg. vom Verlag „Der Kicker“), Nürnberg [1940]